Hape Kerkelings Pilgerbuch kennt fast jeder. Er schrieb vor mehreren Jahren über seine Pilgerreise, die viele Menschen begeistert hat. Hape war „dann mal weg“. Um jedoch wegzukommen, fuhr er wahrscheinlich zunächst mit dem Zug von seiner Heimatstadt aus westwärts bis in die Pyrenäen. Von dort pilgerte er auf dem spanischen Teil des Jakobsweges bis zur Kathedrale von Santiago de Compostela, die sich nur wenige Kilometer entfernt vom Kap Finisterre, dem Ende des Jakobsweges und dem früheren Ende der Welt, befindet. Die Vorstellungen von der Gestalt der Erde haben sich seit dem Ende des Mittelalters jedoch geändert, denn wenn heute jemand vom „Ende der Welt“ spricht, denkt er wohl zuerst an den Osten und erst dann an die Himmelsrichtung, in der die Sonne untergeht. Ich habe Hapes Buch gelesen und zum Nachschlagen in meinen Rucksack gesteckt, als ich, wie er, an einem Sonntagvormittag in meiner Heimatstadt einen Zug besteige. Im Gegensatz zu ihm fahre ich jedoch ostwärts und gelange nach Görlitz, dem Ausgangspunkt meiner zehntägigen Reise. Dabei hätte ich eigentlich bis in die Ukraine fahren müssen, denn die mittelalterlichen Pilger waren einst von Kiew aus quer durch Europa gelaufen. Das Mittelalter, in dem erwartet wurde, dass ein Pilger die vor ihm liegende Strecke zu Fuß bewältigt und dass er dafür mehrere Monate benötigt, ist längst vorbei. Ich habe nur zehn Tage Zeit, auch bin ich eher atheistisch gesinnt und kein Mönch, der von seinem Abt zur spirituellen Weiterbildung zum Pilgern geschickt wurde. Was suche ich also auf dem Jakobsweg? Warum mache ich diese Reise?
Ich weiß, dass die Pyrenäen höher sind als die in der Oberlausitz liegenden Königshainer Berge, ebenso bin ich mir sicher, dass der gewiss nicht kleine Dom von Bautzen nicht mit der Größe und der Erhabenheit der Kathedrale von Burgos mithalten kann. Mir ist klar, dass die im Norden von Spanien liegenden Städte Pamplona, Logrono und Leon bedeutender klingen als die sächsischen Städte Strehla, Dahlen oder Weißenberg. Auch die am spanischen Pilgerweg stehende Brücke Puente la Reina wird dem in Westeuropa kultivierten Bildungsbürger mehr sagen als die bei Wurzen stehende Muldenbrücke. Und dennoch, trotz dieser Vorbehalte werde ich zehn Tage auf dem sächsischen Teil des Jakobsweges laufen. Ich werde wahrscheinlich weniger Pilger als auf dem spanischen Teil der Via Regia treffen, dafür aber souverän über Raum und Zeit verfügen sowie Ziele, Routen und Pausen selbst wählen. Ich werde in meinem Tempo zweihundert Kilometer pilgern und mir Zeit nehmen für die am Weg wohnenden Menschen und die Natur. Ich werde die durch das Pilgern erzeugte Entschleunigung sowie die bewusst genommene Auszeit vom Alltag genießen und mich nicht gegen den Staub der Straßen wehren. Ich werde ihn annehmen und ihn abends in meiner Lunge und an meinen Beinen spüren. Ich werde durch die sächsische Heimat pilgern und als ein solcher mit einem neuen ungewohnten Blick auf die mich umgebende Landschaft sowie auf die mich empfangende Städte schauen. Dabei hoffe ich auf neue Einsichten und Erkenntnisse, hatte ich doch als Sonntagstourist die meisten Städte bereits besucht.Die Pilgertour wird mich von Görlitz über die Königshainer Berge bis nach Bautzen führen. Von dort immer westwärts bis nach Kamenz und Großenhain und schließlich bis in die Leipziger Tieflandsbucht. Ich werde mit der Elbe und der Mulde die beiden größten sächsischen Flüsse überqueren, bevor ich Leipzig, die Heldenstadt der friedlichen Revolution von 1989, erreiche. Von dort sind es nur wenige Kilometer bis zum Dorf Kleinliebenau, dem Ziel meiner Reise.
Lust weiterzulesen? Das Buch ist erschienen beim traveldiary.de Reiseliteratur-Verlag.